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HAFT & FOLTER IN BULGARIEN & DDR
ERINNERUNGEN

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Was geschah damals...

WAS GESCHAH DAMALS - 1971 - IN DEN BULGARISCHEN KERKERN
UND IN DER STASI-HAFT?
Erinnerungen 30 Jahre danach
von
Christian W. Staudinger
©
Berlin, im November 2000

zum Hörbuch

Ich wollte weg, damals, weg aus der DDR, weil ich mich bedroht fühlte. Die Stasi hatte mich vor die Alternative gestellt, entweder mit ihr zusammenzuarbeiten oder aber "an der Maschine zu verrecken". Meine Familie war missliebig in der DDR. Meine Eltern galten als nicht staatstreu, weil sie - und das auch noch als Gastwirte - nicht wählen gingen, und weil sie sich am Stammtisch kritisch über das System äußerten, die Fahne nicht raus hängten - das war ja Staatsbürgerpflicht wenn's angesagt war. Ich wollte weder mit der Stasi zusammenarbeiten, noch an der Maschine verrecken. Meine Berufswünsche wurden abgelehnt. Dann gab diese wörtlich zitierte Drohung den Ausschlag. An der Maschine verrecken! Mein Plan, die DDR über die bulgarisch-türkische Grenze zu verlassen, war durch frühere Bulgarienurlaube mit meinen Eltern gereift. Mit mir ging Dieter F. Außer ihm und meinem Bruder wusste niemand, dass ich abhauen wollte. Insbesondere in meiner Familie sagte ich es sonst niemandem, weil ich sie nicht gefährden wollte. Mein Bruder ist heute tot. Er wurde später aus reiner Willkür inhaftiert - wegen angeblich "staatsfeindlicher Hetze" erhielt er 4 1/2 Jahre -, reiste dann aus, kam zu mir nach Berlin, "verkraftete den Westen nicht" - wie man damals sagte - und warf sich schließlich vor die U-Bahn. Als ich ging, wusste ich nicht, dass ich wenige Wochen vor meiner Flucht ein Kind gezeugt hatte. Als ich ging, war ich 18 Jahre alt.

Wir standen am Fluss, in der Nähe von Aktopol, unterhalb der Steilküste. Etwa 10 km sind es von Aktopol bis hierher. Oben lang zu laufen war zu gefährlich, deshalb sind wir den ganzen Weg von Aktopol bis hierher unten an der Steilküste lang. Es war stürmisch in der Nacht, es hat genieselt. Es war gefährlich, weil es dunkel war. Da war kein Strand. Nur Felsen und die Brandung vom Schwarzen Meer. Wir waren wohl drei oder vier Stunden unterwegs, bis wir zu dem Fluss kamen. Die Veleka. Wir dachten, jetzt hätten wir die bulgarisch-türkische Grenze hinter uns. Nach unseren Karten hätte es so sein müssen. Wir haben uns gefreut. Und gejubelt. Doch wir hatten uns geirrt. Die Karten waren falsch.

Mitten in unserem Freudentanz hörten wir plötzlich von hinten, von der bulgarischen Seite her, Geräusche. Wir drehten uns um und sahen zwei bulgarische Grenzer mit Maschinenpistolen im Anschlag: auf uns gerichtet. In einem Meter Abstand etwa haben sie uns in Schach gehalten. Ich dachte nur noch, jetzt ist alles vorbei. Einer von denen hat dann Leuchtkugeln in die Luft abgeschossen. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, bis weitere Uniformierte kamen. Ich bin auch nicht sicher, waren es zwei, drei oder vier. Sofort, als die kamen, wurde ich von einem weiter in Schach gehalten, zwei andere hielten Dieter fest, einer rechts, einer links und dann schlug einer auf Dieter ein. Immer in den Bauchraum. Solange bis er leblos in den Dreck gefallen war. Ich dachte, er sei tot. Das gleiche haben sie dann auch mit mir gemacht, bis ich besinnungslos war. Wie lange es gedauert hat, bis ich wieder zur Besinnung kam, weiß ich nicht. Mir war kalt, ich hatte überall Schmerzen, der feuchte Dreck klebte an mir. Dann haben sie mit einem Strick erst Dieter die Hände auf dem Rücken gefesselt, dann mir. Dann sollten wir laufen. Die Steilküste rauf. Sie haben uns rechts und links immer mit den Gewehrläufen in die Seite gestoßen, damit wir laufen sollten. Sobald wir liefen, haben sie uns am Strick nach hinten gezogen. Dann wieder zugestoßen, damit wir laufen sollten. Ich hab geschrien. Die ganze Zeit. Schon als sie uns geschlagen haben, hab ich geschrien, aber auch jetzt. Immer die Steilküste rauf. Über die Zeit kann ich nichts sagen, nichts, was realistisch wäre, mir kam sie endlos vor. Als wir oben angekommen waren, gingen wir nicht zu der Straße, die da irgendwo war, sondern blieben an der Steilküste. Ganz nah an der Kante mussten wir laufen. Immer das Gewehr in die Seite und dann wieder nach hinten gezogen.

Dann hielten sie uns an. Direkt an der Kante. Rechts unten die Felsen und das Meer. Und dann haben sie mich gezwungen, hinzuknien. Dann hat mir einer den Lauf seiner Kalaschnikow an die linke Schläfe gehalten. Ich habe immer geschrien. "Faschisten", "Faschistenschweine" hab ich geschrien. Dann habe ich gesehen, wie er mit seinem Finger am Abzug zog. Dieses Bild hat sich in mein Hirn gebrannt. Das werde ich nie vergessen. Aber ein Schuss löste sich dann doch nicht. Ich weiß nicht warum. Dann mussten wir weiterlaufen. Bis zu ihrer Station. Da gab es riesige Scheinwerfer, mit denen alles abgeleuchtet wurde. Deshalb waren wir unten an der Steilküste lang geklettert, damit sie uns mit den Scheinwerfern nicht entdeckten. Mir ist, als wären wir den ganzen Weg zurück zu dieser Station gelaufen, bestimmt 10 km. Immer diese Gewehre in der Seite, nach hinten gezogen, nach vorne gestoßen. Es kommt mir heute eigentümlich vor, dass die anderen zu Fuß gekommen sein sollen, aber ich kann mich nicht an ein Auto erinnern. Merkwürdig auch, dass wir alle den ganzen langen Weg zurück gelaufen sein sollen. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir mit einem Auto gefahren wurden. Stattdessen kommt mir die Zeit, die wir immer ganz nah an der Kante der Steilküste lang gestoßen wurden, endlos vor und es ist, als wäre ich mir sicher, dass wir den ganzen Weg gelaufen sind.

Am Strand schon hatten die uns leibesvisitiert und dabei Kaugummis bei uns gefunden. Deshalb haben die wohl gedacht, wir seien amerikanische Agenten, denn irgend so was haben sie immer gesagt. Angekommen an der Station haben sie uns in einen Raum gebracht. Eine Art Agit-Prop-Raum, fast ein Saal, mit Längstischen und vielen Stühlen und den vier Bildern von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Wir blieben gefesselt. Dann kam einer in Zivil, der gebrochen deutsch gesprochen hat. Er war sichtlich erschüttert, als er uns sah. Erschrocken, dass wir noch so jung waren. Der konnte nicht verstehen, was wir da wollten. Ich habe ihm erklärt, dass wir keine Agenten sind, sondern dass wir die DDR verlassen wollten und uns das an der deutsch-deutschen Grenze zu gefährlich war, weil da geschossen wurde und wir hätten nicht gehört, dass auch in Bulgarien geschossen würde. Er war freundlich, wollte wohl auch nicht glauben, dass wir Agenten seien, aber konnte es dennoch nicht fassen, dass wir über Bulgarien weg wollten. So sah es aus. Er sagte uns, dass es eben auch in Bulgarien verboten sei, die Grenze zu verletzen.

Die Nacht hatten wir in diesem Raum auf dem Holzfußboden verbracht. Völlig erschöpft bin ich dort eingeschlafen, als sie uns in Ruhe gelassen hatten. Am anderen Morgen kam ein Pkw und holte uns ab. Wir hatten bis jetzt nichts zu essen bekommen. Vorne im Auto hat einer gegessen und der hat mir was abgegeben. Der sprach gebrochen deutsch. Ich hab gefragt, was jetzt mit uns würde, er sagte, das wisse er nicht. Sie haben uns nach Burgas gefahren.

Ich kann mich an das Haus in Burgas nicht mehr erinnern. Da waren ein Vorhof und eine hohe Mauer. Im Haus haben sie Dieter und mich getrennt. Es ging eine Treppe runter, geradeaus in eine Art Kellerbunker. Ohne Fenster, ohne Licht, eine Stahltür, es hat fürchterlich gestunken. Da haben sie mich rein gesteckt und die Tür zugeschlagen. In dem Raum war Stroh. Ich dachte erst, ich wäre allein, aber dann habe ich gemerkt, dass hinten im Raum zwei oder drei Bulgaren waren. Die sprachen kein deutsch. Es gab kein Klo, deshalb hat es so gestunken. Lehmfußboden mit Stroh, mehr war da nicht drin. Es war stickig. Ich hab geweint und geschrien, gerufen nach jemand von der DDR-Botschaft. Ich dachte, das überlebe ich nicht. Einmal am Tag kam einer, wenn ich so schrie, und hat mir ins Geschlecht getreten. Essen gab es nicht. Etwas Wasser. Einmal am Tag Wasser mit Tomatenschalen drin. Ich hatte Schmerzen vor Hunger. Aber als der Schmerz nach ließ, kamen sie und haben mir ein kleines Stück Halva gegeben. Eine asiatische Süßigkeit. Extrem süß. Hab ich gierig gefressen. Aber dann war er wieder da, der Hungerschmerz. In diesem Kasten war ich etwa 5 bis 6 Tage. Wann Tag oder Nacht war, wusste ich nicht.

Nach diesen Tagen haben sie mich rausgeholt. Vom Licht war ich geblendet. Es ging in ein Büro. Da saß ein dicker Mann. In sächsischem Dialekt sprach der mich höchst zynisch an, ob ich mich "nicht mal waschen" könnte, ich würde "stinken", könnte mir "doch mal die Haare schneiden", was für ein "Schwein" ich sei. Und was ich wohl in der Türkei wollte, ob ich die "Türkinnen ficken" wollte. Aber ich würde da nicht hinkommen, würde nie die "Türkinnen ficken" können. Und die DDR würde ich auch nicht wieder sehen. Im Steinbruch würde ich "verrecken". Vielleicht würde ich es ja auch überleben, dann würde ich das "gelobte Land" der DDR vielleicht doch noch mal sehen. Ich blieb ruhig, war viel zu fertig, um mich aufzuregen. Habe versucht, ruhig auf ihn einzureden. Hab ihm gesagt, dass ich kein Wasser und keine Seife hätte, um mich zu waschen, keine Schere, um mir die Haare zu schneiden. Dann solle ich sie mir "mit dem Löffel scheren". Auch einen Löffel hätte ich nicht, sagte ich ihm. Da sei gar nichts. Ich bat, dass er sich das ansehe, wie ich da in dem Verschlag in der eigenen Pisse und der eigenen Scheiße liegen müsste. Ja, so würde ich auch stinken, sagte er. Ich hab nur gebetet, dass ich da raus komme und wollte den nicht verärgern. Wie ich überhaupt aussehen würde, völlig "verlaust und verdreckt", der DDR "unwürdig". Und ich hatte gedacht, hier kommt endlich ein Deutscher, mit dem ich reden kann, dem ich das alles erzählen kann. Wie lange das ging, weiß ich nicht. Dann hat er telefoniert. Ich hatte gehofft, dass ich jetzt besser untergebracht werde. Was der am Telefon sagte, konnte ich nicht verstehen, es war zu leise, ich glaube auch, dass er bulgarisch gesprochen hat.

Dann kamen zwei, die mich sehr ruppig angepackt haben. An den Oberarmen. Die Treppe wieder runter. Diesmal links lang. In dem Raum brannte eine Funzel. Da waren schon zwei drinnen. In der Mitte stand ein Stuhl, so ähnlich wie früher beim Frisör. Auf diesen Stuhl musste ich mich setzen. Drei hielten mich fest. Einer am linken Arm, einer am rechten und einer stand hinter mir und legte seinen Arm von hinten um meinen Hals. Einer hatte eine Schere, so von der Art etwa, womit man Schafe schert. Damit hat er mir dann die Haare mehr ausgerissen als geschnitten. Das hat höllisch weh getan. Ich dachte, nun wäre es vorbei. Aber der legte die Schere weg und nahm ein Rasiermesser in die Hand. Vier-, fünfmal hat der mir die Kopfhaut von vorn nach hinten aufgeritzt. Es hat sich angefühlt, als ob es bis auf den Knochen runter ginge. Aber, es hat nicht weh getan. Nur ganz warm wurde es.

Dann haben sie mich aus dem Stuhl raus gehieft und zwei haben mich gepackt. Wieder auf den Gang raus. Da hab ich dann gesehen, dass da Blut auf den Boden tropfte. Dann habe ich gemerkt, dass das mein Blut war. Ich fasste mir ins Gesicht, hatte dann die ganzen Hände voller Blut. Ich war wie apathisch. Die haben mich dann in eine Zelle gebracht, eine andere als die, in der ich vorher war. Sie haben mich da reingeworfen, auf einen Bulgaren drauf. Hinter mir haben sie die Stahltür ins Schloss geworfen. Dann wollte ich aufstehen. Hab gemerkt, dass das gar nicht ging. Der Raum war nicht hoch genug. Breit war der Raum etwa so, dass, wenn ich mit dem Rücken an der einen Wand saß, ich mit angewinkelten Beinen die andere berühren konnte. Die Zelle war etwa 10 cm länger als ich. Wieder Lehmfußboden mit Stroh drauf. Und noch ein Bulgare darin. Von dem habe ich gar kein Bild. Ich habe irrsinnig geblutet. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie ich das Blut gestillt habe. Ich war ganz apathisch und hatte auch von den anderen kein Bild, nur von dem dicken Sachsen, den sehe ich heute noch vor mir. Der Bulgare in der Zelle sprach gebrochen deutsch und sagte mir, dass sie hier Leute umbringen. Er würde damit rechnen, dass sie ihn auch umbringen. Als es zu bluten aufhörte, ich weiß nicht wann, kam wieder der Hunger. Und tat weh. Ich hab viel geweint, geschrien. Es war noch viel schlimmer als vorher in der anderen Zelle. Hatte meine Situation verschlechtert. Der Bulgare sagte mir, ich solle ruhig sein, es werde sonst immer schlimmer. Aber ich hatte solche Schmerzen vor Hunger und konnte nicht anders als schreien. Wenn ich schrie, kam einer und hat mich getreten. Immer wieder kam einer und hat getreten. Und immer ins Geschlecht. Am rechten Hoden habe ich noch heute gelegentlich Schmerzen. Sie haben mich so oft getreten, dass ich besinnungslos wurde. Das ging drei Wochen so weiter. Ich bin dann wieder aus der Zelle rausgekommen. Auch hier haben sie dafür gesorgt, dass der Hungerschmerz nie aufhörte. Immer wieder gab es eine kleine Menge Halva oder so was Ähnliches. Nicht genug, um satt zu werden, ein Würfelchen nur, aber genug, um den Schmerz zu erhalten. In den nächsten Wochen gab es nichts anderes zu essen als einmal am Tag dieses warme Wasser mit Tomatenschalen drin und etwa alle 2 Tage dieses Würfelchen. Es gab kein Brot, keine Kartoffeln, kein Obst. Nichts außer dieser Wassersuppe und dem Würfelchen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da drin war. Drei Wochen oder vier?

Dann haben sie mich da raus geholt. Und dann musste ich mich umziehen, die blutverkrusteten und verdreckten Sachen ausziehen. Die habe ich nicht wiederbekommen. Aus meinem Rucksack musste ich was anderes anziehen. Waschen durfte ich mich nicht. Dann haben sie mich mit irgendeinem Pkw weggefahren. Die Fahrt hat nicht lange gedauert. Es ging zum Flughafen. Und da hab ich Dieter wieder gesehen. Der war mit einem anderen Auto hergefahren worden. Da war ein Flugzeug, kleiner als eine Passagiermaschine, eine russische Turbopropmaschine? Wir beide wurden in die Maschine eskortiert, von Deutschen mit gezogener Pistole. Die haben die Nase gerümpft, wir würden "stinken", sie klagten, dass sie sich jetzt auch noch neben uns setzen müssten, wo wir doch so "stinken" würden. Ich hab gefragt, ob ich was zu essen bekommen könnte. Eine Frau sagte, ich hätte mir alles selbst zuzuschreiben, wenn ich in der DDR geblieben wäre, hätte ich auch was zu essen bekommen. Dann fragte ich diese Frau, ob ich denn, wenn ich schon nichts zu essen bekäme, ob ich dann wenigstens auf die Toilette gehen dürfte. Das hat sie mir verweigert. Wieder mit zynischen Bemerkungen. Ich hätte mir das alles selbst zuzuschreiben. Und dann ging es nicht mehr, ich hab gedrängt. Sie hat mich nicht aufs Klo gelassen. Und dann hab ich mich eingepisst. Vor ihren Augen. Sie hat gegrinst. Dann ging es wieder los, was ich für ein Schwein sei. Ich bekam Angst, dass sie mich nun schlagen würden, aber das haben sie nicht getan. Sie haben mich nicht angerührt. Aber es hörte nicht auf, dass sie über mich herzogen, was ich für ein Schwein sei, so zu stinken und sich dann auch noch einzupissen. Und ich würde sowieso nur die "Türkinnen ficken" wollen. Wie lange der Flug nach Schönefeld dauerte, weiß ich nicht mehr.

Auf dem Flugfeld, jenseits der normalen Flugabfertigung, hielt das Flugzeug und da stand ein Barkas-Bus. Darauf stand: "Frische Fische". Von diesen Bussen gab es viele in der DDR. Nach wie vor waren wir gefesselt. Dann haben sie uns in den Barkas-Bus gebracht. Hier haben sie die Fesseln noch mal aufgemacht und mich vorne an irgendwas angebunden. In einer winzigen Zelle. Ich hatte schon im Flugzeug fürchterliche Kopfschmerzen. Jetzt habe ich in dem Bus eine Frau gebeten, mir eine Kopfschmerztablette zu geben. Die hat nur gegrinst. Die Fahrt hat endlos gedauert. Immer wieder hielt der Bus an. Warten. Fuhr wieder los. Hielt. Warten. Wieder weiter. Bis Erfurt.

In Erfurt ging es in die Andreasstraße, das Stasi-Gefängnis. Erst dachte ich, ich wäre am Petersberg. Aber das war ein Gefängnis in der Nazi-Zeit. Hier hatten sie meinen Großvater eingesperrt, weil er Gegner von Hitler war. Er hat die Haft nicht überlebt. Ist am Petersberg verreckt. In DDR-Zeiten sollen dort keine Häftlinge mehr gewesen sein. In der Andreasstraße fiel mir als erstes auf, als sie uns da hochgebracht haben, dass da überall Teppiche lagen. Dann sagte einer: "Jetzt kommen sie erst mal unter die Dusche". Ich hatte wahnsinnige Angst, dass sie mich jetzt vergasen. Mir gingen die Bilder durch den Kopf, die ich sah, als ich als Kind mit der Schule in Buchenwald war. Ich wollte da nicht rein. War mir ganz sicher, jetzt vergasen die Dich.

Die haben mich Gott sei Dank nicht angefasst, ruhig auf mich eingeredet, dass ich doch so verdreckt sei und erst mal gereinigt und desinfiziert werden müsste. Aber ich hatte Angst. Hab ihnen nicht geglaubt. Immer an die Bilder in Buchenwald denken müssen. Dann haben sie mich mit einem Zeug abgesprüht, ich weiß nicht mehr, ob es flüssig war oder ein Pulver. Sie hatten so ein langes, dünnes Ding mit einer Düse vorne und damit haben sie mich abgesprüht. Ich hatte Angst. Danach durfte ich dann in die Dusche. Unter der Dusche, als ich dann allein war, habe ich mich wieder beruhigt. Obwohl die mich, anders als in Bulgarien, nicht angeschnauzt hatten, war ich voller Angst. Die haben mich nicht geschlagen, mich nicht angebrüllt und waren auch nicht so zynisch. Dann konnte ich mich abtrocknen und wieder anziehen. Anstaltsklamotten. Oder? Ich bin mir nicht sicher. Dann haben sie mich über einen Flur mit Teppich in eine Zelle gebracht. Die hatte eine Holztür. Rechts und links waren je drei Betten übereinander. Auf einer Seite ein Waschbecken, auf der anderen ein Klo. An einer Wand Glasbausteine, nicht durchsichtig, aber sie ließen Licht herein. Über der Tür war eine Glühbirne, davor ein Gitter. Die Birne war Tag und Nacht an. Es gab keinen Schalter dafür in der Zelle. Etwa nach einer Stunde haben sie mir Bettzeug gebracht, sauber, blau-weiß kariert, Gabel, Messer, Löffel und eine Schüssel alles aus Plastik, einen Zahnputzbecher auch, Zahnbürste und Zahnpasta. Ich habe mich gefühlt, wie im Paradies. Glückseligkeitsgefühle. Ich konnte auf und ab laufen, mich bewegen, bekam Dinge, die mich wie ein Mensch fühlen ließen. Am Abend gab es sogar etwas zu essen. Ich weiß nicht mehr was, aber es hat köstlich geschmeckt. Sie haben mich zwei oder drei Tage in Ruhe gelassen. Ich durfte im Bett bleiben. Habe dreimal am Tag was zu essen bekommen. Manchmal auch Obst, sogar auch mal eine Banane. Und ich konnte auf ein Klo gehen. Mit Spülung. Alles in der Zelle. Bei der Essensübergabe ging es sehr schnell zu. Wenige Sekunden. Das Essen und am Schluss das Geschirr wurde über eine Klappe in der Tür gereicht. In Sekunden. Klappe auf, Klappe zu. Ich hab versucht, mit dem, der es brachte, zu reden, aber das ging nicht. Seitdem ich in der Zelle war, hat niemand mehr mit mir geredet. Immer nur Klappe auf, Klappe zu. Sechsmal am Tag. Einmal vor und einmal nach dem Essen.

Nach zwei oder drei Tagen kam ein Wärter in die Zelle und hat mir Anweisungen gegeben. Ab jetzt hätte ich mich tagsüber nicht mehr ins Bett zu legen, auch nicht drauf zu setzen. Tagsüber dürfte ich nur auf dem Hocker sitzen. Der habe 5 cm von der Wand entfernt zu stehen und ich dürfte mich auch nicht anlehnen. Nach diesen Anweisungen wurde mir gesagt, dass es nun jeden Tag einmal Hofgang gibt. Für etwa 10 oder 15 Minuten, ich weiß es nicht mehr genau. Da waren auf dem Hof mit hohen Betonmauern so schmale Gänge abgeteilt, wo ich dann alleine lang laufen konnte. Wenn auf diesen teppichbelegten Fluren jemand entgegen kam, musste ich mich sofort mit dem Gesicht zur Wand hinstellen, bis derjenige vorbei und nicht mehr in Sicht war. Außer zu diesen Anweisungen hat niemand mehr mit mir gesprochen. Auch nicht, wenn ich zum Hofgang gebracht wurde.

Nach etwa zwei oder drei Wochen war es soweit. Ich dachte, ich würde wahnsinnig werden. Ich hab es nicht ausgehalten. Ich wusste nicht mehr, was wirklich ist. Es ist schwer zu beschreiben. Es klopfte immer und ich wusste nicht, ob es Realität ist. Ich hab nicht geweint und nicht geschrien, ich bin eher in mir zusammengesackt. Ich kam mir vor, wie ausgelöscht. War nicht mal richtig depressiv. Eher, als ob mich der Wahnsinn jetzt hätte. Unsicher, ob ich existiere oder nicht. Der Hofgang war in Ordnung. Aber sonst kam es mir brutaler vor als in Bulgarien. Ich habe tagsüber nichts gehört. Nur nachts das Klopfen, aber das verstand ich da noch nicht und war mir nicht sicher, ob ich es mir einbildete. Ich wusste nicht, was die hier mit mir machen, von mir wollen, warum keiner mit mir spricht. Dann war da eine Spinne. Mit der hab ich gesprochen. Ich hab den ganzen Tag diese Spinne beobachtet, hab geschaut, was die macht. War mir manchmal gar nicht sicher, ob sie wirklich da ist. Hab dann wieder mit ihr gesprochen. Hab mich gewundert, warum die da alleine ist. Eine mit langen, dünnen Beinen, kleiner Torso mit Knopfaugen, die sich manchmal vergrößert hatten. Hab mich ergötzt an der Ästhetik ihres Netzes. Hab ihr zugeschaut, wie sie ihr Netz gebaut hat, wie der Faden hinten raus kam. Mit welcher Ruhe und Ästhetik sie ihr Netz gebaut hat. Und sie war immer allein. Wie ich. Hab mit ihr gesprochen. Manchmal war ich sie. Und ich dachte, ich werde wahnsinnig.

Irgendwann während der Einzelhaft kam ein Wärter und meinte, ich müsste was wegmachen. Er gab mir einen Lappen und einen Eimer und brachte mich in eine andere Zelle. Gegenüber. Da war ganz viel Blut. Das musste ich wegmachen. Später habe ich erfahren, dass sich da jemand mit dem Plastikmesser die Pulsader aufgeschnitten hatte. Ich musste das Blut wegmachen. Gesprochen haben sie da aber auch nicht mit mir. Es war nicht getrocknet, muss noch ganz frisch gewesen sein. Ich hab auch niemanden schreien gehört. Anders als in Bulgarien. Da hat immer einer geschrien. Hier nie.

Etwa nach 2 Monaten Einzelhaft hat es gegen die Tür gebummert. Es war mitten in der Nacht, dachte, früh um 4. Man hat mich dann zu einem jungen Vernehmer gebracht. Ich war überglücklich, dass ich endlich jemanden zum Reden hatte. Ich hab geredet, ohne Punkt und Komma, hab erzählt von Bulgarien, ob sie denn nicht wüssten, was da in Bulgarien los ist. Er sagte, er wüsste es nicht, hat es mir nicht wirklich geglaubt. Ich hab trotzdem weiter geredet. Dann hat er mich noch formal gefragt, was da an der Grenze passiert ist, ich hab erst gesagt, es würde doch in den Akten stehen, es dann doch erzählt und dann durfte ich wieder gehen. Zu ganz unterschiedlichen Zeiten, etwa zwei-, dreimal die Woche, hat sich das wiederholt. Immer in der Nacht, mitten im Tiefschlaf haben sie mich geholt. Aber für Bulgarien haben sie sich nicht mehr interessiert. Stattdessen wollten sie wissen, wer meine Freunde waren. Ich hab gesagt, sie könnten mich foltern, aber Namen werde ich nicht sagen. Ich hab gesagt, dass ich Westfernsehen gesehen habe, politische Sendungen, hab gesagt, dass es Feste zu Hause gab, wo ich war und was ich gemacht habe, wofür ich mich interessiert habe, aber er wollte Namen und die wollte ich nicht sagen. Ich hab versucht, ihn dann in Gespräche über Sozialismus und Kommunismus zu verwickeln und manchmal war mir das auch gelungen. Ich hab ihm gesagt, wie groß für mich der Schock war, als ich erkennen musste, wie Kommunisten mit Menschen umgehen. Aber das alles hat ihn nicht interessiert. Er wollte nur Namen. Und dann hab ich geschwiegen. Dann haben sie härtere Geschütze aufgefahren. Die Vernehmer wurden hochrangiger. Erst einer. Dann wurden es mehr. Bis zu vier, zwei vor mir, zwei hinter mir, sie haben ständig auf mich eingeredet. Immer völlig unterschiedliche Fragen gestellt. Mal abwechselnd, mal gleichzeitig. Das ging ungefähr so, dass einer vorn gefragt hat, wie wir an die Grenze gekommen sind, einer hinten, wer meine Freunde sind, ob Bulgaren bei der Flucht geholfen haben. Vorn sagte einer, ich würde für viele Jahre ins Gefängnis gehen, ein anderer hinten, ob ich nicht wüßte, dass das verboten ist, mit wem meine Eltern Kontakt hatten, ob ich Kommunist bin und immer so weiter. Irgendwann konnte ich sprechen und hab das erst mal ausgenutzt. Hab versucht, zu diskutieren, um überhaupt mit jemandem zu sprechen. Aber sie ließen nicht locker, sie wollten Namen. Sie haben noch versucht, mich mit köstlichem Essen zu locken. Hühnchen, sie wussten nicht, dass ich das noch nie mochte.

Nach einigen Verhören haben sie mich verlegt. In eine andere Zelle. Da waren noch drei andere. Das war angenehmer, etwa einen Monat vor meiner Verhandlung. Die anderen haben mir gesagt, was es mit dem Klopfen auf sich hat. Hab gelernt, wie es geht und wie man über das Klo mit anderen kommunizieren kann. Das Wasser muss raus, dann geht es. Dann bekam ich Bücher, durfte lesen und war nicht mehr allein. Über das Klo habe ich von den Frauen, die weiter unten untergebracht waren, auch den entscheidenden Tipp bekommen. Von Stange und Vogel erfahren und wie ich es anstellen muss, um Kontakt dahin herzustellen. Das waren zwei Rechtsanwälte, einer aus dem Osten, einer aus dem Westen, Unterhändler beider Regierungen, die den "Freikauf" von Gefangenen der DDR organisierten. So hieß das damals. Heute würde man das Menschenhandel nennen. Ich kostete nur 40.000 DM, andere 80.000 und für einen Professor musste die Bundesrepublik 120.000 DM bezahlen. So kam die DDR an Devisen. Ich durfte, als ich nicht mehr in Einzelhaft war, auch schreiben und Post bekommen, einmal im Monat. All das gab es in der Einzelhaft nicht. Meine Eltern wussten ewige Zeit nicht, wo ich war, sie haben keine Auskunft bekommen. Nachdem ich in diese neue Zelle verlegt wurde, durfte mich meine Mutter das erste Mal besuchen, im Dezember. Vor der Gerichtsverhandlung durfte mich einer von meinen Eltern einmal besuchen. Der Wahnsinn hörte auf in dieser Zelle. Ich konnte wieder zur Ruhe kommen.

Die Gerichtsverhandlung war eine Farce. Meine Eltern haben einen Rechtsanwalt besorgt. Der bat mich, die Füße still zu halten, mich anzupassen. Sagte mir durch die Blume, dass die Urteile eh vorher schon klar waren. Etwa ein halbes Jahr nach meinem Prozess hat er sich umgebracht, ist von einem Hochhaus gesprungen. In der Verhandlung hab ich Dieter wieder gesehen. Wir waren beide mit Handschellen gefesselt. Die Öffentlichkeit wurde rausgeschickt. Meine Eltern und die von Dieter blieben sitzen. Auf Nachfrage der Richterin erklärten sie, die Eltern der Angeklagten zu sein. Die Richterin erklärte, Eltern seien auch Öffentlichkeit und daraufhin mussten auch sie den Saal verlassen. So bekamen sie von der Verhandlung nichts mit. Die Richterin hat mir das Schlusswort verweigert. Hat gesagt "Sie haben kein Recht, hier irgendetwas zu sagen, wenn wir das nicht wollen" und das alles unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mehrfach während der Verhandlung sagte sie, ich solle doch den Mund halten. Die Verhandlung war auch in Erfurt. Ich bin dann noch für einige Tage zurück in das Gefängnis gebracht worden und danach mit der Eisenbahn nach Cottbus ins Gefängnis verlegt worden. Während der Fahrt war ich gefesselt, wieder in einem kleinen Kabuff. Wieder dauerte die Fahrt endlos. Ich war wieder von Dieter getrennt. Weiß gar nicht, wo er hinkam. Hab ihn seit dem nie wieder gesehen.

In Cottbus kam ich in die Aufnahmezelle mit 25 Leuten. Da gab es Appell, wir wurden gezählt. Da blieb ich etwa eine Woche oder zwei. Wenn wir da die Wäsche nicht akkurat aufeinander gelegt hatten, kamen sie mit Hunden in die Zelle, haben die Hunde losgemacht und sie auf die Leute gehetzt. Die Hunde haben zugebissen, mich nicht, weil ich im obersten Bett lag.

Nach 14 Tagen etwa wurde ich in eine 6er Zelle verlegt. Da wurden wir dann zur Arbeit eingeteilt. Da war noch ein Kameramann, ein Mathematiker, ein älterer Spion und ich weiß nicht mehr. Da mussten wir arbeiten, 12 Stunden am Tag, an der Stanze und die war ungesichert. Ich hab gesehen, wie sich einer da drei Finger abgestanzt hat. Er hat schneller arbeiten wollen, um besseres Essen zu bekommen. Es gab A-, B- und C-Verpflegung, je nach Arbeitsleistung. Ich habe immer nur C-Verpflegung bekommen. Sie haben auch geschlagen in Cottbus, aber mich nicht.

Bei einem Besuch meiner Mutter hab ich ihr einen Kassiber zugesteckt, einen kleinen Zettel, wo drauf stand, wie sie Vogel & Stange einschalten konnte. Ein Vertreter von Vogel kam auch irgendwann. Danach bin ich nach Karl-Marx-Stadt gekommen. Es ging dann alles recht schnell. Ich wurde mehrfach gefragt, ob ich nicht doch lieber wieder in die DDR entlassen werden wollte. Ich wollte nicht. Man sagte mir, dass ich dann aus der Staatsangehörigkeit der DDR entlassen würde und das müsste ich auch unterschreiben. Hab ich unterschrieben. Später hab ich ein Entlassungspapier bekommen. Entlassen aus der DDR! In Karl-Marx-Stadt bin ich nur noch erste Sahne behandelt worden. Man hat mir alle Wünsche erfüllt. Da war ich etwa 3 Tage. Ein Mercedes-Bus fuhr vor, andere waren schon drin, es ging Richtung Staatsgrenze. Der Bus hielt, noch in der DDR. Stange und Vogel stiegen zu. Beglückwünschten uns. Irgendwo haben sie angehalten und die Nummernschilder vom Bus ausgetauscht. Dann waren wir im Westen. Es ging nach Gießen. Ins so genannte "Notaufnahmelager". Da mussten alle aus der DDR hin. Die erste Station in der Freiheit.

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▸ Fotos

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Fotos: Christian W. Staudinger
Was geschah ungezählten anderen DDR-Bürgern an diesem Ort?
Mehr dazu bei dem Politologen Prof. Stefan Appelius
speziell über den Tod an der Veleka
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Verhaftung in Bulgarien

Das Verbrechen

auslieferung an ddr

Übersetzung ist in Vorbereitung

flucht in bulgarien

 

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▸ Ausstellungen zum Thema

flyer zur einladung für die ausstellung so nah-weit fern

Ausstellung: "so nah...weit fern"
in der Andreasstrasse
mit Fotos & Videos

 

ausstellung "das grauen-haft und folter in Bulgarien und der DDR" im Speicher in Erfurt

Ausstellung: Das Grauen
Haft & Folter in Bulgarien & DDR
im "Speicher"
mit Fotos & Videos

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DIE VELEKA
Vergrößern der Karte zeigt Details der Veleka-Mündung (roter Pin)

 

An diesem Ort scheiterten viele Flüchtlinge aus der DDR,
manche bezahlten mit ihrem Leben

 

berliner mauer

Video: Mauerbesteigung Berlin 1988
4:10
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letzte Aktualisierung: 30.11.15

 

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